· 

„Vielleicht werden wir ja eines Tages in einer Konföderation leben.“

Kommen wir nunmehr zum wahrscheinlich exotischsten Kleinstaat, den ich auf meiner Reise besuche. Ein Land mit eigener Regierung, Verwaltung, Währung, Nationalhymne, Flagge, Post. Mit eigenem Militär und Zoll. Eigentlich hat dieses Land so gut wie alles, was einen souveränen Staat auszeichnet.

Ein klitzekleines Problem hat die Pridnestrowische Moldauische Republik (Pridnestrowien, PMR) allerdings doch: Kein anderer Staat und keine internationale Organisation erkennen Pridnestrowien als souveränen Staat an. Bis zum Auseinanderbrechen der Sowjetunion war Pridnestrowien Teil der Moldauischen Sowjetrepublik. Nachdem bereits 1989 Russisch als Amtssprache abgeschafft und Moldauisch (fast identisch mit Rumänisch) obendrein als nunmehr einzige Amtssprache der Moldauischen Sowjetrepublik vom kyrillischen auf das lateinische Alphabet umgestellt wurde, regte sich insbesondere im östlich des Flusses Dnister gelegenen Teil der Republik zunehmend Widerstand gegen die immer stärkere „Rumänisierung“. Mit der Ausrufung der Republik Moldau (Moldawien) im Jahre 1990 kam es zu einer stetig zunehmenden Diskriminierung der Menschen mit nicht-moldauischer Herkunft. Nun, jetzt wird es politisch. Wie immer liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte. Es waren wohl weder ausschließlich der zunehmende moldauische Chauvinismus auf der einen Seite, noch ausschließlich eine rückwärtsgewandte sowjetische, russophile Bewegung auf der anderen Seite, die ab 1990 zur Sezession des weitestgehend jenseits des Flusses Dnister gelegenen Gebietes Transnistrien führten. Es kam zu kriegerischen Auseinandersetzungen, die im Jahre 1992 schließlich beigelegt wurden. Man spricht von einem "eingefrorenen" Konflikt.

Während man im Westen diesen nicht-anerkannten de facto Staat als „Transnistrien“ (jenseits des Dnister) bezeichnet, steht der russischstämmige Begriff „Pridnestrowien“ für „am Dnestr“. Damit wird einerseits zum Ausdruck gebracht, dass auch Regionen westlich des Flusses dazu gehören, andererseits wird durch die Verwendung des russischen Namens des Flusses („Dnestr“) auch klargestellt, dass Russisch die gebräuchliche Landessprache ist. Lassen wir mal die politischen Verwicklungen beiseite. Die Menschen sprechen hier Russisch, und auch geographisch gesehen ist „Pridnestrowien“ eindeutig stimmiger als „Transnistrien“. Auch wenn letztere Bezeichnung deutlich leichter über die deutsche Zunge geht: Da müssen Sie jetzt durch, liebe Leserinnen und Leser, ich halte mich an die geographische und landessprachliche Faktenlage. Sollte Ihnen „Pridnestrowien“ beim Lesen Schwierigkeiten bereiten, denken Sie sich einfach „PMR“. Ich muss zugeben, dass auch ich beim auf Russisch geführtem Gespräch mit Viktor Ivaniuk mehrfach über das Wort „Pridnestrowije“ stolper, so dass Viktor schon vorschlägt, dass ich auch „Transnistrije“ sagen könne. Aber nö, da habe ich auch meinen Stolz, auch wenn Viktor es nun wirklich nicht als Affront auffassen würde, verwendete ich die im Lande nicht so gerne gesehene Bezeichnung.

Eigentlich ist der 63-jährige Viktor seit kurzer Zeit Pensionär, aber noch arbeitet er weiter in seinem Planungs- und Architekturbüro mit fünf bis sieben Angestellten. Auch wenn er als Architekt ja eher der Mittelklasse angehört und nicht am Hungertuch nagen muss, ist ein eigenes Auto für ihn unerschwinglich. Auf der anderen Seite wird er auf keinen Fall zulassen, dass ich mein Essen und Trinken selber bezahle (oder ihn gar einlade). In solchen Fällen hat es ich bewährt, vorher reichhaltig zum Mittag zu essen und dann beim Treffen am Abend darauf zu verweisen, erst vor kurzem gegessen zu haben. Das schont den Geldbeutel des Einladenden und auch die Gesundheit, denn abends sollte man sich ja sowieso nicht den Magen vollschlagen. Aber gegen ein Gläschen des vorzüglichen einheimischen Weines und einen Salat ist natürlich auf gar keinen Fall etwas einzuwenden. Diesen guten Wein werde ich auch noch anlässlich einer Landpartie mit Andrej am übernächsten Tag genießen. Mehr dazu im Buch!

Zurück zu Viktor. Wir sprechen über unsere Familien, die Arbeit, das Wetter, halt über alles, was neutral und unverfänglich ist. Dann will ich es aber doch wissen und frage Viktor, wie es in Zukunft mit Pridnestrowien weiter gehen wird. „Vielleicht werden wir ja eines Tages in einer Konföderation leben.“ Eine Konföderation mit Moldawien können sich sicherlich einige Bewohner Pridnestrowiens vorstellen. Es gibt aber auch viele Befürworter (wohl mehr als 90% der Einwohner) einer strikten Unabhängigkeit. Der status quo hat auch seine Befürworter, denn man hat sich ja ganz gut eingerichtet und lebt in Ruhe. Jede Veränderung könnte ja auch dazu führen, dass wieder Unruhen ausbrechen. Als Garant für Frieden sieht sich auch die hier stationierte russische Armee, und diese Rolle gesteht auch Viktor ihr zu. Und aus russischer Sicht ist es nur allzu verständlich, den status quo möglichst lange aufrecht zu erhalten. Deswegen wohl hat Russland Pridnestrowien diplomatisch nicht anerkannt. Eine Militärbase zwischen der Ukraine und Moldawien gibt man nicht so schnell auf, ganz bestimmt nicht. Russland lässt sich die Unterstützung Pridnestrowiens einiges kosten, und Pridnestrowien dankt es durch enge Freundschaft zu Russland. Russische Fahnen sieht man in Tiraspol an fast jeder Straßenecke.

Noch präsenter als Russland ist in Tiraspol allerdings ein Land, das schon seit mehr als einer Generation nicht mehr existiert: die Sowjetunion. In wohl kaum einer anderen Stadt sind die Hinterlassenschaften der UdSSR so lebendig wie in Tiraspol. Leninstatuen, Hammer und Sichel, sozialistische Architektur, und damit meine ich nicht nur die Plattenbauten.

Natürlich haben auch in Tiraspol die Kommunisten schon lange die Macht verloren, aber ihre Symbole haben überlebt. Das geht bis ins Passwesen. Wegen der fehlenden staatlichen Anerkennung des Landes haben viele Bewohner gleich mehrere Pässe. Häufig ist auch der russische Pass dabei. Nicht so bei Viktor. Er hat einen moldawischen Pass, einen ukrainischen, und einen – ja, kaum zu glauben, aber wahr – einen Pass der UdSSR.

Dieser Pass ist immer noch gültig, mindestens hier in Pridnestrowien. Es versteht sich von selbst, dass es in Pridnestrowien, zum Beispiel in der Stadt Bender, Kantinen mit der Ausstattung und den Gerichten der UdSSR gibt. Werbeslogan: „Willkommen in der UdSSR – so schmackhaft wie früher!“

Ob nun Transnistrien, oder Pridnestrowien: Es ist zu kurz gegriffen, dieses Stückchen Land auf eine Rolle als „letzte verbliebene Republik der UdSSR“ zu reduzieren. Auch hier ist man im 21. Jahrhundert angekommen und hat das Wählscheibentelefon gegen das Smartphone eingetauscht. Und noch präsenter als die UdSSR-Symbolik ist der Sheriff-Konzern, der sich so nebenbei auch einen sehr erfolgreichen Fußballclub leistet.