Jetzt ist es an der Zeit, über die Liebe zu sprechen. Ja, ich gestehe, dass ich eine Geliebte in Kaliningrad habe. Sie gefällt ja nicht allen, aber ich finde sie sehr schön. Leider ist sie nicht immer pünktlich und lässt mich manchmal ganz schön lange warten. Meistens kommt sie dann doch noch irgendwann an. Sie hat wohl wahrscheinlich auch noch andere Liebhaber, aber das stört mich nicht. Manchmal rüttelt und schüttelt sie mich hin und her. Nun, sie ist altmodisch, anspruchslos und bittet mich nur um Kleingeld. Ich empfinde immer eine große Freude, wenn sie sich mir nähert. Und da kommt sie ja auch bereits angebimmelt.
Wahrscheinlich hatten Sie ja schon erraten, dass es sich bei meiner Geliebten in Kaliningrad um die Straßenbahn handelt, meinem beliebtesten Fortbewegungsmittel im alten Königsberg. Wie schade, dass derzeit nur noch eine einzige Linie verkehrt, die Linie Nummer fünf. Zum Glück liegt die Wohnung meiner Gastgeberin Ludmila sehr nahe an einer Straßenbahnhaltestelle. Es ist zwar nicht die schnellste, aber dafür die schönste Art und Weise, mit der Straßenbahn in das Stadtzentrum zu gelangen.
Wer als Tourist genügend Zeit mitbringt, sollte die Straßenbahn für eine Stadtrundfahrt nutzen. Man kann zum Beispiel einfach am Wendekreis der Straßenbahn am westlichen Ende des Prospekts Mira einsteigen. Bald, nachdem die Straßenbahn ihre Endhaltestelle verlassen hat, wird die Schaffnerin an Sie herantreten. Sie sprechen kein Russisch? Macht nichts, denn die Schaffnerin spricht wahrscheinlich auch weder Deutsch noch Englisch. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Straßenbahn an der Ecke Karl-Marx-Straße nach links abbiegt, wird Ihnen schon klar gemacht werden, wie viel Sie zu bezahlen haben (zur Zeit 24 Rubel).
Die Straßenbahn fährt jetzt ein Weilchen durch die Festival-Allee, deren Name etwas trügerisch ist, da es sich bei dieser Allee um einen langen sehr schönen Fußweg handelt, an dessen Seite die Schienen der Bahn in einem Grünstreifen verlaufen. Man kann jetzt mit der Bahn bis ins Stadtzentrum fahren, oder man steigt an der Haltestelle neben der Terrasse des Cafés „Сова“ („Eule“) aus.
Auch wenn Ludmila ja immer behauptet, dass die Gäste, die in diesem Lokal verkehren, „nicht besonders vertrauenswürdig“ seien, ist es besonders auf der Terrasse sehr gemütlich. Und da Ludmila ja ganz in der Nähe von hier wohnt, habe ich hier schon so manches Gläschen Bier geleert. Von Zeit zu Zeit rumpelt ja auch meine Geliebte vorbei und ich proste ihr zu. In den letzten vier Jahren habe ich hier auch sehr oft mit meinen Freunden Dieter oder Matthias gesessen, die ich beim Besuch von Russischkursen kennengelernt hatte.
Zuletzt saß ich mit Dieter Anfang April in der Eule, als wir mit einer Dreiergruppe trinkfester Russen ins Gespräch kamen. Dima war so etwas wie der Senior der Gruppe, ein Geschäftsmann, der als Student in den Achtzigern nach Kaliningrad kam. Jetzt habe ich Lust auf ein Wiedersehen, und meine WhatsApp-Nachricht war kaum verschickt, da kam auch schon Dimas Antwort. „Alles klar, lass uns um 20.00 Uhr in der Eule treffen.“
Dima und Andrej sitzen schon im Lokal, als ich eintreffe. Wir begrüßen uns wie alte Freunde, dabei hatten wir uns im April zum bisher ersten und einzigen Mal gesehen. Die beiden Freunde sind sehr an meiner Reise interessiert und Ich zeige ihnen eine Karte meiner bisherigen Reise zu den Kleinstaaten Europas. „Natürlich ist Russland ja nun alles andere als ein Kleinstaat, aber die zwischen Polen und Litauen gelegene Exklave Kaliningrad hat ja etwas weniger als 1 Million Einwohner, so dass sie thematisch durchaus in mein Projekt passt.“ Darauf stoßen wir an, denn natürlich hat man mir sofort und ungefragt ein Bier gebracht.
Um es gleich von vornherein klarzustellen: Dima und Andrej sind keine tumben Kneipengänger, die sich mit Unmengen von Bier und Wodka volllaufen lassen. Solche Typen gibt es natürlich auch in Russland zur Genüge, aber freiwillig würde ich mich mit denen bestimmt nicht treffen. Andrejs Sohn lebt seit fünf Jahren in Holland, Dimas Tochter in Tscheboksary, einer Stadt an der Wolga zwischen Nischni Novgorod und Kasan. Auch für meine Freunde aus Kaliningrad ist es also nichts ungewöhnliches, dass der Nachwuchs nicht gerade mal eben um die Ecke wohnt. So ist sie halt, die Globalisierung. Nein, hinterm Mond lebt man hier wirklich nicht. Dima war kürzlich gerade mal wieder in der Waldbühne in Berlin zum Konzert der Gruppe „Kiss“. Er hat schon so einige Konzerte besucht, u.a. Mark Knopfler, und die Skorpions (praktisch meine Nachbarn zuhause). Andrej hat mal einige Monate auf Island gearbeitet. „Ein tolles Land, aber die Preise… .“ Und damit meint er nicht nur die Bierpreise. So sprechen wir über Reisen, Kinder und Familie, ein ganz gemütlicher Abend mit weiteren Prosits auf unsere Frauen, auf die Gesundheit und auf die Freundschaft. Und um 21.30 ist Feierabend, Andrej und Dima müssen ja schließlich morgen wieder arbeiten.
Wer Lust darauf hat, die berühmte russische Seele ein wenig kennen zu lernen, dem sei eine Reise nach Kaliningrad sehr zu empfehlen.
Keine andere russische Stadt ist Deutschland so nahe wie das ehemalige Königsberg. Das bezieht sich nicht nur auf die geographische Nähe, so beträgt die Entfernung Berlin-Kaliningrad nur rund 530 Km (während es von Kaliningrad nach Moskau mit rund 1100 Km immerhin etwa doppelt so weit ist). Aber auch die fast 700 jährige deutsche Geschichte Königsbergs, von seiner Gründung im Jahre 1255 durch König Ottokar dem Zweiten bis zur Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung 1945, ist noch allgegenwärtig. Als Wahrzeichen Kaliningrads kann sicherlich der wieder aufgebaute Dom angesehen werden, aber auch viele andere (zumeist wiedererrichtete Gebäude), die man zum Beispiel auf der von mir empfohlenen Tour mit der Straßenbahn passiert, sind aus der deutschen Zeit.
Und im Stadtteil Amalienau gibt es das Museum „Altes Haus“, in dem sich die Touristen und die jetzigen Bewohner Kaliningrads ein Bild davon machen können, wie eine gutbürgerliche Wohnung in Königsberg aussah.
Heute sind weniger als 1% der Kaliningrader Deutsche, die größtenteils erst nach dem Zerfall der Sowjetunion aus teilweise sehr weit entfernten Gegenden Russlands oder anderer ehemaliger Sowjetrepubliken nach Kaliningrad gezogen sind. Sie bilden eine kleine Minderheit in dem natürlich deutlich russisch dominierten Vielvölkergemisch, das seit nunmehr über 70 Jahren in Kaliningrad lebt und hier schon lange heimisch geworden ist. Während in der Zeit von 1945 bis in die fünfziger Jahre hinein das ganze Kaliningrader Gebiet (die „Oblast Kaliningrad“), also die nördliche Hälfte der früheren deutschen Provinz Ostpreußen, noch ein streng bewachtes militärisches Speergebiet war, dessen Bevölkerung auch später größtenteils nicht sehr viel Interesse an der deutschen Vergangenheit zeigte, änderte sich die Lage mit der Öffnung Kaliningrads nach dem Zerfall der Sowjetunion deutlich, und 2005 gab es nicht nur die große 60 Jahresfeier Kaliningrads, sondern man gedachte auch der Gründung Königsbergs vor 750 Jahren. Das offizielle Motto „750 Jahre Kaliningrad“ kam damals allerdings der historischen Wahrheit etwa so nahe wie die heimische Fußballmannschaft Baltika Kaliningrad dem Gewinn der UEFA-Champions League. Dima ist übrigens stolzer Besitzer einer VIP-Dauerkarte für die Spiele des Klubs, der mit viel Glück in der letzten Saison seinen Platz in der zweithöchsten russischen Liga halten konnte.